Ein Beitrag von Theo Andes
Marcel Lemmes ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medienwandel und Medieninnovation an der Universität Tübingen und promoviert aktuell zu digitaler Desinformation in visuellen, multimodalen Arrangements.
Im Rahmen eines Experteninterviews durften wir Herrn Lemmes zu seinem Spezialgebiet Memes befragen, zu welchem er auch im Rahmen der Vorlesungsreihe „Medienkonvergenz und Bildikonen“ referiert hat.
Wir wissen ja, einer Ihrer Fachbereiche ist das Thema Memes. Wie lange beschäftigen Sie sich schon mit dem Thema?
Beschäftigen ist eine gute Frage. Tatsächlich so im Alter von 13, 14 Jahren, da ist das Phänomen groß geworden. Da habe ich schon angefangen, mich privat damit zu beschäftigen und mich dafür zu interessieren. Aber in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung habe ich so Mitte, Ende meines Bachelors angefangen, mich das erste Mal wissenschaftlich mit dem Phänomen auseinanderzusetzen.
Sie schreiben eine ganze wissenschaftliche Arbeit über das Thema Memes. Was finden sie an Memes denn eigentlich so faszinierend?
Die Dynamik hinter Internetmemes fasziniert mich besonders, da sie für Außenstehende oft schwer nachvollziehbar ist. Als Wissenschaftler, der nicht direkt involviert ist, fehlt einem oft der Einblick, warum bestimmte Bilder mit bestimmten Texten kombiniert werden und warum genau diese Kombinationen so beliebt sind, während andere weniger Beachtung finden. Es ist eine Herausforderung zu verstehen, wie sich die Trends entwickeln und wie die Mitglieder in den Meme-Communities kommunizieren, um zu verstehen, warum bestimmte Inhalte so populär werden. Für Außenstehende erscheint dies oft wie eine undurchsichtige Blackbox, die es zu entschlüsseln gilt. Doch gerade diese Unberechenbarkeit macht es für mich so faszinierend, sich in diese Welt einzuarbeiten und zu versuchen zu verstehen, was hinter den Phänomenen steckt und warum sie auftreten.
Was ist Ihrer Meinung nach das ikonischste Meme unserer Zeit?
Es ist wirklich schwierig, das ikonischste Meme unserer Zeit zu bestimmen, da die Ikonizität stark vom Zeitgeist abhängt. Es gibt verschiedene Meme-Formate, die zu verschiedenen Zeiten an Bedeutung gewinnen und dennoch als ikonisch betrachtet werden können, da sie in unseren kollektiven Erinnerungen bleiben und in memetischen Gemeinschaften präsent sind.
Ein Beispiel dafür ist das "Hide the pain"-Harold-Meme, das auf einem Stockfoto eines ungarischen Models basiert, was sehr gequält aussieht. Es gehört sicherlich zu den ikonischsten Memes, da es trotz nachlassender Popularität vielen bekannt ist und ein fester Bestandteil unserer memetischen Kultur bleibt.
Ein weiteres bekanntes Meme ist das "Distracted boyfriend"-Meme, bei dem ein Mann einer anderen Frau hinterherschaut, anstatt seiner Freundin, die er gerade an der Hand hält. Auch dieses Meme ist vielen vertraut und hat seinen Platz in unserem kollektiven Bewusstsein gefunden.
Ein weiteres potenziell ikonisches Meme ist der Gigachat, ein Bild eines russischen Models, das sehr maskulin wirkt und mittlerweile in verschiedenen Kontexten weit entfernt von Diskursen über Männlichkeit eingesetzt wird. Es scheint sich ebenfalls als Kandidat zu etablieren, sich in unser ikonisches Gedächtnis einzuprägen
Unser diesjähriges Tübinale-Thema sind ja Bildikonen. In welchem Zusammenhang stehen Memes und Bildikonen?
Grundsätzlich sind Memes ein multimodales Phänomen. Sie umfassen nicht nur Texte und Videos, die als Memes gelten, sondern auch eine große Anzahl von Memes, die aus Text-Bild-Kombinationen bestehen. Daher besteht eine relevante Verbindung zu Bildikonen. Viele Bildikonen, die wir aus der Pressefotografie kennen, sind eng mit multimodalen Elementen verbunden. Moderne Bildikonen werden selten ohne jegliche Form von begleitendem Text veröffentlicht. Ähnliche Verhältnisse können auch bei Internetmemes beobachtet werden, insbesondere bei Text-Bild-Memes. Ohne eine Kontextualisierung durch Text würden diese Bilder nicht die gleiche Verbreitung und Bedeutung erlangen. Meiner Meinung nach haben die Bildinhalte in Text-Bild-Kombinationen bei Memes durchaus das Potenzial, ikonisch zu werden, ähnlich wie es bei Pressefotografien der Fall ist.
Shifman definiert Memes als: „Kleinste Einheit zur Übertragen kultureller Inhalte“, würden sie dem zustimmen?
Diese Frage ist besonders aus medienwissenschaftlicher Sicht interessant. Die Vorstellung von Memes, wie sie hier beschrieben wird, orientiert sich stark an Richard Dawkins' Konzept der Memetik, das versucht, Kultur aus einer biologisch-naturalistischen Perspektive zu erklären. Aus medienwissenschaftlicher Sicht wäre diese Definition jedoch ungeeignet und entspricht nicht der Art und Weise, wie der Begriff "Meme" in der Öffentlichkeit üblicherweise verwendet und verstanden wird.
Aus meiner Sicht sind Memes eine spezifische Textgattung für Medientexte, die von Natur aus multimodal sind und neben anderen Formen von Medientexten existieren. Ähnlich wie Filme oder Comics stehen Memes in einer eigenen Kategorie von Medientexten. Wir verwenden Memes, um auf bestimmte Weise unsere Identität auszudrücken und kulturelle Inhalte zu vermitteln. Diese Definition erscheint mir aus medienwissenschaftlicher Perspektive passender.
Es gibt ganz besondere Text-Bild-Beziehungen bei Memes. Wie würden sie einem Laien diese erklären?
Die Text-Bild-Beziehung in Memes kann sich stark unterscheiden und hat sich interessanterweise im Laufe der Zeit entwickelt. Frühere Meme-Formate hatten oft eine klare Struktur, bei der das Bild das Rahmenwerk für die Interpretation des Textes vorgab. Dieses Konzept des Rahmens stammt aus der Frame-Theorie und besagt, dass die Umgebung einer Botschaft ihre Interpretation beeinflussen kann. Diese Struktur war besonders bei frühen Memes, den sogenannten Image-Makro-Memes, zu beobachten. Hier war das Bild entscheidend für die Interpretation des Textes.
Heutzutage, mit der Entwicklung der modernen Meme-Kultur, sind die Arrangements deutlich komplexer. Sowohl Text als auch Bild bilden eine gemeinsame kommunikative Einheit, und es ist oft unmöglich, den einen Teil ohne den anderen zu verstehen. Text und Bild verschmelzen zu einer einzigen multimodalen Aussage, und beide Komponenten sind erforderlich, um den Inhalt und die Absicht des Memes zu erfassen.
Was sagt denn die Meme-Kultur über unsere heutige Gesellschaft aus?
Die zunehmende Bedeutung von Memes, insbesondere bei der jüngeren Generation, spiegelt den Trend der Beschleunigung in der Medienkultur wider. Medieninhalte werden immer kürzer und leichter zugänglich, wobei Memes an vorderster Front dieser Entwicklung stehen. Memes sind kleine, eigenständige Inhalte, die gleichzeitig mit anderen Medieninhalten verbunden sind, was die fortschreitende Entwicklung unserer gesamten Medienlandschaft verdeutlicht, auch im journalistischen Bereich.
Die Verbindung von Informationen und Humor in Memes ist charakteristisch. Selbst bei politischen Memes ist oft ein humorvoller Unterton zu finden. Dies zeigt, wie sich unsere Kultur und unser Umgang mit Medien verändern. Die Verwendung von Humor und eine weniger ernsthafte Herangehensweise spiegeln möglicherweise einige Entwicklungen in unserer Gesellschaft wider.
Was ist denn eigentlich Ihr Lieblingsmeme?
Ja gut, also das ist vielleicht ein bisschen älter, aber es gibt dieses eine Meme von einem Orang-Utan, der in irgendeiner Talkshow sitzt mit einem sehr affentypischen, dümmlichen Gesichtsausdruck und fragt, wo denn eine Banane sei. Das ist eins meiner Lieblingsmeme-Formate, weil ich es so absurd finde.
Memes sind ja ein sehr aktuelles Phänomen. Wie stellen sie sich die Zukunft der Memes vor?
In den letzten zehn Jahren hat sich erstaunlich wenig an der formal-ästhetischen Grundstruktur von Internetmemes verändert. Es scheint, als ob ein gewisses Plateau erreicht wurde, das ausreichend kreative Freiheit bietet, um funktional zu sein. Dennoch glaube ich, dass wir eine Zunahme von Text-Bewegtbild-Arrangements sehen werden. Plattformen wie TikTok, die besonders bei jüngeren Generationen beliebt sind und auf denen viel memetischer Content geteilt wird, zeigen diesen Trend bereits. Bekannte Formate aus Text-Bild-Memes, wie beispielsweise Reaction-Formate, werden eins zu eins in Videos umgesetzt. Es scheint generell eine Tendenz zu mehr Bewegtbildern in memetischen Kontexten zu geben.
Allerdings, falls keine bedeutenden neuen Medientechnologien auf den Markt kommen, erwarte ich nicht, dass sich viel ändert. Der geringe Formalisierungsgrad von Memes bietet bereits so viel kreative Freiheit, dass nahezu alles ausgedrückt werden kann. Trotzdem wird das, was wir produzieren, als Teil eines Netzwerks von Texten verstanden, was die Bedeutung und den Einfluss von Memes in der Zukunft bestimmen wird.
Aus Darstellungsgründen wurde das Interview in einigen Passagen nicht sprachlich geglättet und gekürzt. Die Kernaussagen sind jedoch dem Original entsprechend.
Das Organisationsteam der Tübinale 2024 hat einige der Memes, die Herr Lemmes beschrieben hat für Ihre Vorstellungsbilder nachgestellt. Schaut gerne mal hier rein
Bildquellen:
https://media.wired.com/photos/59a459d3b345f64511c5e3d4/master/pass/MemeLoveTriangle_297886754.jpg
https://i.imgflip.com/58eyvu.png?a475152