Fiktionale Kurzgeschichte zum Thema Polarisierung


Tübinale Blog Beitrag 2022 fiktionale Kurzgeschichte zum Thema Polarisierung über Schwangerschaftsabbruch

Zur Polarisierung gibt es die unterschiedlichsten Themen, die in Filmen und Serien, aber auch in der Literatur als Grundlage genutzt werden. Auf ihnen werden spannende Handlungen aufgebaut und die konträren Seiten für einen Konflikt verwendet. Klimawandel, Politik, Genderdebatten, Impfen oder Abtreibung sind hierfür nur ein paar Beispiele. Eines der Themen haben wir genutzt, um daraus eine eigene fiktionale Kurzgeschichte zu schreiben. 


Mörderin

Sie war allein. Die Dunkelheit war schon vor Stunden hereingebrochen und durch das Fenster konnte sie vereinzelte Sterne am schwarzen Nachthimmel entdecken. Das schwache Licht der Deckenlampe warf dunkle Schatten auf ihren bis auf die Unterwäsche entkleideten Körper. Die Wohnung war ganz still. Viel zu still. Sie stand im Raum und starrte auf das Bild, das sich ihr im Spiegel bot. Ihr Spiegelbild starrte sie aus geröteten, verweinten Augen an. Ihre Hüften, die Beine, der Bauch. Der Blick glitt hoch zu ihrem Gesicht und verharrte dort. Sie wirkte müde. Graue Schatten lagen unter ihren Augen, die Haut wirkte fahl. Kein Lächeln. Nur der leere Blick. Ein Suchen lag in ihren Augen. Ein Abtasten des Spiegelbildes. Sie war müde. Vorsichtig glitt ihre Hand zu dem Haargummi und löste die hastig zusammengebundenen Haare, die locker auf ihre Schultern fielen. Langsam ließ sie sich auf die Bettkante sinken, die Hände neben ihre Beine gestützt. Draußen bellte ein Hund und ein Auto fuhr langsam an dem großen Haus vorbei, in dem sich eine Wohnung an die nächste reihte. Das Licht der Scheinwerfer fiel für einen kurzen Moment durch die nur halb zugezogenen Vorhänge und erleuchteten das schlicht eingerichtete Zimmer. Aus dem Nebenzimmer hörte sie das leise Ticken des Weckers, den sie von ihrer Oma zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. In ihrem Kopf tobte das Chaos. Ihr Brustkorb fühlte sich an, als würden Steine die Luft aus ihren Lungen pressen. Unsichtbare Hände schlossen sich fest um ihren Hals. Jeder Atemzug fiel ihr schwer. „Das kannst du doch nicht machen!“. „Das wirst du bereuen“. Die Stimmen hallten dumpf in ihrem Kopf wider und vermischten sich zu einem Chor aus verschwimmenden Sätzen. Immer und immer wieder die gleichen Worte, die sich mit der Zeit wie zäher Schleim in ihren Gedanken festsetzten. Ihre Hand glitt über ihre Haut und blieb an ihrem Bauch hängen. Noch konnte man keine Wölbung erkennen. Und das sollte auch so bleiben. „Du beendest ein Leben, das noch nicht einmal begonnen hat!“. Das Entsetzen in seinen Augen hatte sich tief in ihr eingebrannt. Die anfängliche Freude war gänzlich aus seinem Gesicht gewichen. Sie alle hatten sich so gefreut. „Oh wie schön, ich freue mich so sehr für dich“. „Jetzt werde ich endlich Oma!“. Ein tiefer Atemzug. Noch einer. Sie schloss die Augen. Tränen rannen ihr über die Wangen. Dicke Tropfen, die heiß auf ihrer Haut brannten und sich ihren Weg suchten, bis sie zu schwer wurden und auf ihre nackten Beine fielen. Ihr Körper sackte zurück und fiel weich auf das zerwühlte Bett. Hätte sie es verschweigen sollen? „Es ist mein Körper!“. Ihre Stimme wurde immer leiser und ging in dem Stimmengewirr beinahe unter. „Es ist mein Körper! Und ich will das nicht!“. Sie hatte es nicht an die große Glocke hängen wollen. Er hatte sich so gefreut. Der Glanz in seinen Augen war unbeschreiblich und er hatte es allen gleich verkündet. Und jetzt hatte sie alles zerstört. „Das kannst du doch nicht einfach so entscheiden!“. „Du denkst immer nur an dich!“. Keiner konnte es verstehen oder wollte sie verstehen.  „Wir unterstützen dich auch mit dem Baby“. „Es gibt so viele Anlaufstellen, bei denen Sie Hilfe bekommen werden.“ Morgen hatte sie den Termin in der Frauenklinik. Sie würde alleine gehen. Alleine sein. Ihre Tränen versiegten. Sie fühlte sich leer. Nachts träumte sie von den Blicken ihrer Mutter. Seine Augen verfolgten sie auch am Tag. Die Trauer, die Wut. Augen gefüllt mit Hass. Und Liebe. Zerbrochene Liebe. „Das ist auch mein Kind!“ Es war so schwer. Und es tat so weh. „Ich kann das nicht“. „Ich will das nicht“. Sie setzte sich auf. Die Frau im Spiegel starrte sie aus dunklen Augen an. Ihr gleichmäßiger Herzschlag hallte in ihrem Kopf wider. „Mörderin!“.